Bericht einer Alltagslotsin

Ich sitze vor der Alltagslostenmail und überlege, ob ich mich für einen noch jungfräulich leeren Sprechstundentermin eintrage. Bisher bin ich zwei oder drei Mal spontan zu den Sprechstunden gegangen und habe den erfahrenen Alltagslotsen, von denen immer jemand in der Notunterkunft war, geholfen. Was, wenn dieses Mal niemand da ist? Kann ich das? Optimistisch gehe ich davon aus, dass schon ein erfahrener Alltagslotse kommen wird und trage mich ein. Außerdem: Besser nur ich bin da, als gar keiner. Am Freitag bin ich dann um kurz nach 15 Uhr in der Notunterkunft und erstmal alleine. Ich setze mich an den großen Tisch und warte. Vor dem Tresen steht ein Pulk von Geflüchteten – offenbar wurde gerade Post verteilt. Mich beachtet niemand und ich bin ein bisschen froh darüber. Das ändert sich schlagartig, als eine halbe Stunde später Gisela eintrifft. Sofort kommen mehrere Geflüchtete an den Sprechstundentisch, jeder mit einem Stapel Papiere und Formularen zum Ausfüllen.
Der Erste hat demnächst einen Termin bei der Ausländerbehörde in Rathenow. Er muss noch Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und auf Ausstellung eines Reiseausweises ausfüllen. Erklärungen dazu finden sich im gut sortierten Ordner der Alltagslotsen, das Ausfüllen ist eigentlich kein Problem. Nur als die Frage nach Krankheiten kommt (warum will die Ausländerbehörde das wissen?), bin ich mir unsicher. Gerade noch hat Gisela ein ärztliches Gutachten des Geflüchteten abfotografiert, damit die Medizin-AG mal drüber gucken kann. Ist er dann wohl nicht gesund? Die Frage wird übersetzt, die Antwort ist klar: „Not ill, he is like a horse.“ Na gut, dann das Kreuzchen bei „gesund“. Der Nächste braucht Hilfe beim Ausfüllen des Kindergeldantrags. Beim letzten Mal habe ich noch beim Ausfüllen von Arbeitslosengeldanträgen geholfen. Inzwischen zahlt das Jobcenter, drängt aber darauf, dass Kindergeld beantragt wird. Denn das wird vom Arbeitslosengeld abgezogen, das Jobcenter muss also weniger zahlen. Für die Betroffenen kommt unterm Strich genau das Gleiche heraus, nur bekommen sie das Geld jetzt von zwei verschiedenen Stellen. Auch Kindergeldanträge sind nicht schwer auszufüllen. Das Kind, um das es geht, ist übrigens viereinhalb Monate alt und in Eisenhüttenstadt geboren. Die Frau des Antragstellers ist also schwanger geflüchtet, dann mit dem Säugling von Eisenhüttenstadt nach Falkensee gezogen und die junge Familie hat die ersten Monate mit Baby in der Notunterkunft verbracht. Was für ein Start! Aber der junge Vater strahlt und berichtet auf Deutsch, zum 1. Mai zögen sie in eine Wohnung in Falkensee, drei Zimmer, sogar mit Balkon. Beim nächsten Kindergeldantrag müssen gleich drei Anlagen ausgefüllt werden, für jedes der drei Kinder eine. Der Antrag ist schnell ausgefüllt, dann fehlen aber Geburtsurkunden für die Kinder. Die haben den Weg von Syrien nach Falkensee nicht geschafft. Also schreibe ich noch eine kurze Erklärung für die Familienkasse und frage mich, wie man ohne jede Urkunde nachweist, dass diese drei Kinder die eigenen sind. Auch der nächste Hilfesuchende hat einen Kindergeldantrag dabei. Auf die Frage nach der Anzahl seiner Kinder antwortet er 22 – ein kleines Missverständnis… Er hat keine Kinder, ist aber als 22-Jähriger selbst noch kindergeldberechtigt. Allerdings fehlt ihm seine Steuer-ID-Nummer. Er verspricht, sie bis Montag zu besorgen; das Ausfüllen seines Antrags muss bis dahin warten.
Langsam bekomme ich einen Eindruck davon, durch welchen Formular- und Behördendschungel sich die
Geflüchteten schon gekämpft haben. BAMF, Ausländerbehörde, Jobcenter, Krankenkasse, Rentenversicherung, Sparkasse, Familienkasse, Finanzamt, Wohnberechtigungsschein usw. Und das alles in einem fremden Land und in einer fremden Sprache. Wer das schafft, denke ich, hat den ersten Schritt zur Integration erfolgreich gemacht!
Inzwischen wurden Gisela und ich mit Kaffee versorgt. Da Gisela ihren schwarz mit Zucker trinkt, bekomme ich auch meinen so. Das ist nicht so meins, aber ich nippe ihn höflich fast leer. Schließlich kommt noch ein junger Geflüchteter mit einem echten Problem: Er möchte seine Freundin heiraten, die ebenfalls als Flüchtling in Falkensee gelandet ist. Im Gegensatz zu ihm ist sie aber nicht als Flüchtling anerkannt, sondern muss nach dem Dublin-Verfahren ausreisen, um dort, wo sie zuerst registriert wurde, das Asylverfahren durchzuführen. Die Zeit läuft den beiden davon, für eine Eheschließung in Deutschland reicht sie wohl nicht. Die Trauung nach islamischem Recht, die die beiden schon vollzogen haben, wird in Deutschland nicht anerkannt. Hier können wir nicht wirklich helfen. Als dann noch die Freundin von einer Beratungsstelle wiederkommt, wo ihr gesagt wurde, es sei alles nicht so schlimm und die junge Frau könne ihren Asylantrag auch hier stellen (eine Fehlinformation, da sind wir uns sicher), ist klar: Das ist ein Fall für einen Anwalt.
Nach gut drei Stunden scheint uns niemand mehr zu brauchen. Ich denke, zur Not wäre ich auch alleine
zurecht gekommen, aber zu zweit ist es doch netter. Und: Alles nicht so schlimm, im Gegenteil es macht
sogar Spaß! Deshalb: Nächste Woche wieder.
Bericht einer Alltagslotsin