Gelungene Integration ist für Christoph Böhmer, wenn die Menschen, die zu uns gefunden haben, Einkommenssteuern zahlen. Damit das überhaupt gelingt, dafür braucht es Sprachkenntnisse, ein sicheres Dach über dem Kopf, Ausbildung, und Arbeitgeber, die bereit sind, sich auf Menschen aus anderen Kulturkreisen einzulassen. Er meinte es ernst, als er 2015 in die Initiative kam und sagte, dass er seine Ressourcen dafür einsetzen wolle. Christoph baute in der Notunterkunft im Möbelhaus Agon für über 200 Betten mit auf, für Menschen, die ohne Zwischenwänden dicht auf dicht wie in einer Turnhalle leben mussten. Dann war er nächtelang mitten unter ihnen. Er hörte zu, wenn es um Angehörige ging, die in anderen Heimen waren, und die es galt zusammenzubringen. Er schlichtete Streit, wenn die Nerven blank lagen, lernte einige Worte persisch, und zeigte sein Interesse an dem Leben, das die Leute hinter sich gelassen hatten.
Dies schuf Vertrauen, so dass seine Telefonnummer weitergereicht wurde wie eine Währung. Heute sagt er, rufen ihn Leute aus Berlin oder aus anderen deutschen Städten an, wenn sie nicht weiter Wissen, um sich Rat von ihm zu holen. Dabei geht es um Krankenkassenfragen, zwielichtige Verträge, die den Leuten aufgeschwatzt wurden, Hilfe bei der Suche nach Ausbildungs-, Studiums- oder Schulplätzen. Christoph hilft allen. Steuerangestellten, wenn komplizierte Lebensumstände aufgedröselt werden müssen, Krankenkassen, die bei ihm anrufen, wenn es gilt Durcheinander aufzuklären und Arbeitgebern, die Leute suchen und bei Christoph wissen, dass die Leute, die er vermittelt gut auf das deutsche Erwerbsleben von
ihm vorbereitet wurden. Er vermittelt in all diese Richtungen, damit es klappt mit seinem selbst gesetzten Ziel. Christophs größte Motivation in der Initiative ist es, aus Geflüchteten Steuerzahlende zu machen. Er sagt: „Steuern zahlen kann ich nur, wenn ich nicht im Minijobsektor bin, sondern wenn ich eine Ausbildung absolviert habe. Das ist nicht einfach bei Menschen, die vielleicht nur drei Jahre zur Schule gehen konnten, weil sie mit neun anfangen mussten, die Familie mitzuernähren.“
Aber Christoph ist keiner der jemanden aufgibt, nicht den, der keine Bildungschance hatte, und nicht den, den die Traumatisierungen und Anpassungsstörungen in die Drogensucht getrieben haben und den er im Gefängnis besucht und weiterhilft. Christoph hat nicht nur die Tür zu seinem Herzen, sondern auch zu seiner Familie geöffnet. Seit 2015 lebt er nun mit syrischen, afghanischen, iranischen Newcomern mit verschiedenen Glaubensrichtungen und traditionellen Werten zusammen. Hier galt es vor allem anfangs auszubalancieren, Verständnis und Klarheit zu vermitteln. Es zeigte sich, dass der Ingenieur
sozialarbeiterische Fähigkeiten hat.
Im Laufe der Zeit hat Christoph mehr als 100 Geflüchteten intensiv und in lang andauernder direkter Begleitung geholfen, in ihr deutsches Leben zu finden. Für mehrere junge Menschen war er auf deren Wunsch Vormund. Seiner Unterstützung können sich alle sicher sein, aber er gibt zu, dass das Entdecken von Überfliegern unter den jungen Geflüchteten immer noch zu den spannendsten Momenten gehört. Vielen ebnete er den Weg auf ein Gymnasium, einige studieren inzwischen an deutschen Universitäten in Fächern mit hohen Numerus-Clausus-Hürden.
Die Bindungsversprechen, die Christoph gibt, die hält er. Hilfesuchende gehen zwar nicht selten ihren eigenen Weg, abseits von den Empfehlungen, die Schule weiter zu besuchen, oder die Anstrengung einer Ausbildung auf sich zu nehmen, stattdessen lockt das schnelle Geld in Minijobs oder Schwarzarbeit. Dann trennen sich die Wege.Viele kommen jedoch zurück, manchmal Jahre später. Sie haben gelernt wie schwer es ist, als letztes Glied der Angestelltenkette den Lebensunterhalt zu verdienen, etwa als Paketauslieferer. Sie wollen wieder Hilfe, um auf dem zweiten Bildungsweg ihre Chancen zu verbessern. Das ist für Christoph kein Problem. Er sagt: „Die Leute müssen die Erfahrung selber machen. Ohne intrinsische Motivation sind die Herausforderungen und Anstrengungen nicht zu bewältigen. Bei manchen geht es schneller, andere
brauchen einige Jahre dafür.“
Tag und Nacht ist er ansprechbar für kleine und große Probleme, die es zu lösen gibt. Und wenn er wieder einmal sieht, dass der Müll falsch getrennt wurde, dann hält er sich nicht damit auf, sich darüber aufzuregen, sondern sortiert kurzerhand alles in die richtige Tonne und steigt sogar selbst noch hinein, wenn es Not tut, um Platz zu schaffen, damit alles in die richtige Tonne passt. Er ist mehrfach der Bitte nachgekommen Vormund zu werden. Das hat dazu geführt, dass selbst Erwachsene ihn gefragt haben, ob er das nicht auch für sie sein könne. Doch da lacht er und hilft ihnen lieber, ihre Belange selber zu klären. Aufgeschwatzte Telefonverträge, Fernsehversicherungen oder ADAC-Mitgliedschaften zu kündigen,
Steuererklärungen auszufüllen, Kindergeldanträge auszufüllen oder nachzuvollziehen, warum die Betriebskostenabrechnung hoch, aber trotzdem richtig ist.
Seit es in Falkensee gut klappt, und ein gut ausgebautes Netz von Ansprechpartner:innen bei den Arbeitgebern, Behörden, Unterstützer:innen gibt, hat sich der Aktionsradius vergrößert. Nun profitieren auch die Bildungsinteressierten an der europäischen Außengrenze von Christophs selbst gestecktem Ziel. Für diese Menschen hat er Onlinelehrer engagiert, Tablets, Schulbücher und Internetzugang organisiert und ermöglicht ihnen Sprachkurse in Deutsch und Englisch. Den Leuten in den Camps gibt das eine Perspektive. Außerdem fühlen sie sich mit ihren Träumen und Ressourcen gesehen und das wiederum hilft ihnen, das Leben in den Camps zu ertragen. Manchmal erfährt er nicht, von wem jemand seine Nummer bekommen hat, aber das ist nicht wichtig, wenn es gilt, einer Frau zu helfen, die in Moria von mehreren Männern gefangen gehalten und misshandelt wurde. Da muss schnell die Flucht unterstützt und die Frau in
Sicherheit gebracht werden. Fährtickets gekauft, Begleiterinnen zum Krankenhaus organisiert und ein Platz im griechischen Frauenhaus gefunden werden. Wie Human ist “Herr Christoph” rund um die Uhr erreichbar
– Integration ist keine Einbahnstraße, dazu gehören zwei Seiten. Ohne eine aufnehmende Gesellschaft,
die den Menschen mit offenen Armen begegnet, funktioniert es nicht.