Falkensee, 14. August 2022
Interview mit Christoph Böhmer, Kreisvorsitzender der MIT im Havelland
Havelland. Die Wirtschaft leidet seit einiger Zeit und Arbeitskräftemangel. Über die momentane Situation im Havelland sprach Sandra Euent für die BRAWO mit Christoph Böhmer, dem Vorsitzenden der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT) der CDU/CSU im Havelland.
BRAWO: Es gibt Schätzungen, dass bis 2030 in Berlin und Brandenburg rund 500.000 Arbeitskräfte fehlen werden. Je nachdem, welcher Prognose man glaubt, wären das rund 20% der Arbeitsplätze. Wieso ist das so?
Christoph Böhmer: Es kommen mehrere Effekte zusammen. Die Demographie: Die geburtenschwachen Jahrgänge machen sich seit mehr als 10 Jahren im Arbeitsmarkt bemerkbar. Wirtschaftliches Wachstum in Osteuropa: Viele Osteuropäer, die bis vor einiger Zeit in Deutschland gearbeitet haben, sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt, weil sie dort auskömmliche Arbeitsplätze gefunden haben. Steigende Nachfrage: Trotz der Finanzkrise 2007/8 und trotz Corona geht es der deutschen Wirtschaft, insgesamt betrachtet, so gut wie nie zuvor. Wir wachsen, wenn auch langsam, auf hohem Niveau.
BRAWO: Das hört sich ja eigentlich gut an. Wo ist denn das Problem für das Havelland?
Christoph Böhmer: Der Mangel an Arbeitskräften verteilt sich nicht gleichmäßig. Das Handwerk und mancher Dienstleister leidet besonders. Es scheint, dass für manch jungem Menschen das Handwerk im Internetzeitalter uncool ist. Auch mancher Dienstleister findet keine Arbeitskräfte mehr. Für Unternehmen wird es unberechenbar und führt zu Knappheit. Wer kann nicht davon erzählen, dass man monatelang auf Termine beim Handwerker warten muss.
BRAWO: Was ist denn Ihrer Meinung nach zu tun?
Christoph Böhmer: Es braucht mehr Anstrengungen, um den gravierenden Arbeitskräftemangel abzumildern. Das fängt mit der Einsicht an, dass aus dem Fachkräftemangel längst ein Arbeitskräftemangel geworden ist. Deswegen müssen alle Möglichkeiten zur Mobilisierung von Arbeitskräften genutzt werden – im In- und Ausland. Ohne Denkverbote.
Empfänger von Sozialleistungen sollten noch stärker motiviert werden, zu arbeiten. Ich befürchte, dass es ohne Konsequenzen nicht gehen wird.
Auch müssen wir mehr für die Duale Ausbildung werben. Schulen sollten noch mehr als bisher Praxiswochen in Handwerks- und Industriebetrieben durchführen, um Schüler:innen für diesen Teil der Berufswelt zu begeistern. Deutschland braucht nicht nur Master sondern auch Meister.
BRAWO: Sie haben Zuwanderung erwähnt. Was meinen Sie damit?
Christoph Böhmer: Die MIT setzt sich für mehr gesteuerte Zuwanderung aus dem Ausland ein. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz sind 2020 zwar die richtigen Weichen gestellt worden. Aber gerade bei Arbeitskräften gäbe es noch viel Potenzial. Die Zuwanderung scheitert häufig an der Umsetzung. Allem voran die sogenannte Vorrangprüfung: In einem völlig undurchsichtigen Verfahren wird Unternehmen häufig vorgehalten, das es angeblich arbeitswillige Bewerber mit Arbeitserlaubnis in Deutschland gibt, die für den Arbeitskräftebedarf bereitstünden. Bürokratiehürden wie die Anerkennung der Gleichwertigkeit von Abschlüssen, lange Wartezeiten bei den Behörden und mangelnde Digitalisierung verhindern, dass Unternehmen Arbeitskräfte schnell und effektiv einbinden und binden könnten. Da ist die Bundesregierung am Zug: Sie muss hier behördliche Verfahren beschleunigen, Gleichwertigkeits-Vorschriften praktikabler gestalten, den Spracherwerb im Ausland unterstützen und somit für praxistaugliche Handhabung vor Ort sorgen. Die heutigen Systeme sind immer noch stark auf Abwehr von Zuwanderung ausbildungswilliger oder ausgebildeter Menschen ausgerichtet.
BRAWO: Was kann noch getan werden?
Christoph Böhmer: Wir organisieren gerade zusammen mit der Willkommensinitiative in Falkensee eine Job-Börse. Das ist zwar kein neues Instrument. Aber gerade in den letzten 30 Corona-Monaten kam diese Art von Kontaktvermittlung zwischen Arbeitsinteressierten und Arbeitgeber:innen zu kurz. Deswegen haben wir spontan die Initiative ergriffen und wollen am 24. August 2022 in der Stadthalle von Falkensee aktiv werden.
BRAWO: Was ist das Besondere an dieser Job-Börse?
Christoph Böhmer: Diese Job-Börse richtet sich auch, aber eben nicht nur, an Geflüchtete. Viele Menschen, die seit 2015 zu uns gekommen sind, verfügen mittlerweile über sehr gute Deutsch-Kenntnisse, haben Schul- und Ausbildungsabschlüsse erworben, oder sind auf anderem Wege wertvolle Arbeitskräfte geworden. Viele Menschen, die vor kurzem aus der Ukraine zu uns gekommen sind, verfügen über hervorragende Qualifikationen. Und schließlich gibt es auch viele Falkenseer, die vielleicht neugierig auf Neues sind. Alle sind eingeladen. Die ausstellenden Arbeitgeber bieten über 1.500 Arbeitsplätze in der Region an.
Auch der Staat muss aktiver bei der Arbeitskräftegewinnung werde: Botschaften und Goethe-Institute und Auslandsschulen sollten verstärkt junge Menschen mit Deutschkenntnissen für eine Ausbildung in Deutschland anwerben.
BRAWO: Das heißt, alles wird gut?
Christoph Böhmer: Ich bin Optimist. Ja, vieles kann gut werden. Aber es braucht Anstrengung von allen.
Christoph Böhmer ist Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) im Landkreis Havelland. Die MIT ist mit rund 25.000 Mitgliedern der größte parteipolitische Wirtschaftsverband in Deutschland. Die MIT setzt sich für die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und für mehr wirtschaftliche Vernunft in der Politik ein.